Hier ein kleiner Auszug aus meiner Zeit im Stollen:
Zwischen der Frontlinie (Alsdorf - Mariadorf, Bahnlinie Aachen Nord) habe ich mit meiner Familien und noch einigen Dutzend anderer in der Zeit von Oktober 1944 bis zum Ende der Kämpfe in einem Stollen zugebracht. Während über uns Kellerberg, mein damaliger Wohnort, abwechselnd von beiden Seiten mit Panzer- und sonstigen Granaten zerschossen wurde, bangten wir darunter um unser Leben. Obwohl wir aus den vorangegangenen 4 Kriegsjahren mit ihren Bombennächten und ähnlichen Ereignissen uns schon an allerhand gewöhnt hatten, setzte dies allem die Krone auf.
Der Stollen befand sich südlich von Kellersberg. Er hatte drei Zugänge und war aus einer Schlucht zwischen dem Friedhof Kellersberg und Ofden mit zwei Öffnungen und außerdem vom Südring in Kellersberg aus zu erreichen. Der Stollen ist während des Krieges von Bergleuten als Luftschutzbunker angelegt worden.
Die Luftbildaufnahme vom 18.11.1944 bringt mich ganz nah an meine damaligen Erlebnisse heran und eröffnet mir den Einstieg in die Erinnerung. Die vielleicht sogar für die Nachwelt bedeutungsvoll sein könnte.
Ich kann mich noch an Einzelheiten erinnern, die sich zunehmend verdichten und erweitern, je mehr ich sie an mich heran lasse. Wir lebten in dieser Zeit an der Grenze des Verhungerns und Verdurstens, derweil von beiden Seiten auf alles geschossen wurde, was sich zwischen den Fronten bewegte. Die Beschaffung von Nahrungsmitteln war jedes Mal ein lebensgefährliches Unterfangen. Mein Zeitgedächtnis für diese Vorgänge hat sich daher sehr verwischt, denn es zählte nur der Kampf ums Überleben.
Erst aus diesem Forum habe ich erfahren, dass die Amerikaner am 7. Oktober 1944 Alsdorf eingenommen hatten. Wie lange wir in dem Bunker, der am Südrand meiner Heimatstadt zwischen den Fronten lag, zubringen mussten, habe ich verdrängt. Ich weiß nur, es war eine "lange Zeit".
Von den Amerikanern, wenn sie sich denn einmal truppweise auch in unserem "Bunker" sehen ließen, hatten mein Vater und ich, sowie auch andere Väter und Söhne in unserem Alter, die fahnenflüchtig waren, weniger zu befürchten. Aber wenn sich die Deutschen sehen ließen, war es allein schon deswegen lebensgefährlich. Am nächsten Baum hätten sie uns aufgeknüpft, wären wir der Militärpolizei (Kettenhunde nannte man sie wegen ihrer an Ketten um den Hals getragenen Blechschilder mit der Aufschrift "Militärpolizei") in die Fänge geraten. Wir hatten also während dieser Zeit zwischen den Fronten mehr von den eigenen Leuten als von den Feinden zu befürchten.
Einmal luden die Deutschen einen schwer verwundeten Kameraden bei uns ab. Er hatte einen Kopfdurchschuss. Die Kugel ist vorne in den Stahlhelm eingedrungen und hinten ausgetreten. Wir hatten Mühe, ihm den Helm abzunehmen. Ganz in meiner Nähe im Stollen legten sie ihn ab und verschwanden wieder. Danach kamen Amerikaner und versorgten ihn notdürftig, bevor auch sie wieder abzogen. Es handelte sich dabei um Stoßtrupps, die jeweils ins Niemandsland, in dem wir in unserem "Bunker" gefangen waren, bis zu uns vorgestoßen sind. In der Nacht darauf ist der deutsche Soldat neben mir röchelnd verstorben, ohne das Bewusstsein erlangt zu haben.
Solche und ähnliche Szenen spielten sich wochenlang tagtäglich ab. Auch wurden von den Amerikanern einige ihrer Verwundeten zurückgelassen, die bei nächster Gelegenheit entweder von den Deutschen oder von ihren eigenen Leuten mitgenommen wurden.
Im Stollen durfte nicht geraucht werden. Wenn draußen etwas Ruhe einkehrte, begaben sich die Raucher gruppenweise vor den Eingang, um ihre selbst erzeugten oder von den Amis geschenkten Zigaretten zu rauchen. So geschah es dann einmal, dass wir nach einem lauten Knall vorsichtig zum Eingang schlichen, um feststellen zu müssen, dass 5 unserer Mitbewohner von dem Volltreffer einer deutschen Granate zerfleischt worden sind. Darunter war auch der Vater meines besten Freundes, der sich als Flakhelfer aus dem Staub gemacht hatte. Sein toter Vater war ebenfalls fahnenflüchtig. Wir alle waren mehr oder weniger aus dieser Sicht im Fadenkreuz der deutschen Fahndung.
Bei dem Beschuss mit Todesfolgen muss es sich um eine deutsche Granate gehandelt haben, derweil die Deutschen mit Geschützen über weite Entfernungen aus ihren Stellungen heraus feuerten. Während die Amerikaner direkt aus den Panzern ihr Ziel anvisierten. Zu der Zeit war aber kein einziger US-Panzer in unserer Nähe unterwegs. Es konnte also nur eine deutsche Granate gewesen sein. Aus meiner Familie war zum Glück niemand unter den Toten. Die toten Angehörigen unserer Nachbarn und Freunde hatten tagelang vor dem Bunkereingang gelegen, bevor wir sie in einigen ruhigen Stunden begraben konnten.
Nun bin ich dabei das ganze aufzuarbeiten. Wie weit mir das gelingt, hängt von meiner Lebenserwartung ab. Zunächst aber bin ich dabei aus allen möglichen Quellen zu schöpfen und zu recherchieren, um in etwa meine Erinnerung mit den tatsächlichen Vorgängen in Übereinstimmung zu bringen und auch meine Fantasie auszuschalten. Schließlich sind seitdem annähernd 70 Jahre vergangen und noch vermengen sich in meinem Gedächtnis Dichtung und Wahrheit. Manches wird mir erst jetzt wieder bewusst, indem ich mich damit auseinandersetze. Aber auch mancher böse Traum löst sich auf, indem sich die dahinter liegende Realität offenbart.
Hier ein Auszug aus der Luftbildaufnahme vom 18. 11. 1944 mit nachträglichem Eintrag von mir über den Stollen, der inzwischen zugeschüttet worden ist, und meine damalige Wohnung in Alsdorf-Kellersberg, Jakobstraße 18.
Der Stollen lag genau zwischen den Fronten am Rande von Alsdorf. Dass es damals hart hergegangen ist, zeigen die unzähligen Granat- und Bombentrichter in der Umgebung. Der große Trichter unterhalb des Stollens diente uns oftmals als Schutz vor Beschuss von beiden Seiten, wenn wir auf Nahrungssuche in der näheren Umgebung unterwegs waren, die wir uns aus zerschossenen Panzern oder aus fluchtartig verlassenen Stellungen beschafften. Oftmals mussten wir dabei sogar über Leichen kriechen. Besonders aus den zerschossenen US-Panzern ließ sich so manches an Schokolade über Zigaretten bis hin zu Keksen hervorholten. Das alles befand sich im unteren Bereich in einer Vorratskammer. Es bedurfte oftmals großer Mühe in dem zerschossenen Panzer dort heranzukommen. Dabei mussten wir nämlich tief zwischen zersplittertem Stahl und Leichenteile bis an den Boden der Stahlungetüme vordringen. Dabei kamen wir uns vor wie Ratten, die in Kanalschächten nach Nahrung suchen.
Am gefährlichsten war die Wasserversorgung. Die mussten wir aus einer nahe gelegenen Pumpe mit Selbstbedienung in einer Entfernung von nahezu einem Kilometer unter Beschuss von beiden Seiten eimerweise sicherstellen Denn das alles geschah im Niemandsland zwischen den Fronten, in dem auf alles geschossen wurde, was sich bewegte. Wir waren also währenddessen nicht mehr als Zielscheiben, derweil man von der einen wie der anderen Seite nicht zu erkennen vermochte, dass wir doch eigentlich noch kleine Jungs oder Zivilisten waren.
Trotzdem konnten wir Jungens uns, die sich inzwischen an dieses mörderische Umfeld gewöhnt hatten, nicht verkneifen, im jugendlichen Leichtsinn auf abstruse Weise mitzuspielen. So entdeckten wir in einem Graben eine Kiste voller Stielhandgranaten. Damit umzugehen wussten wir. So rissen wir einer nach der anderen die Zündungssicherungen ab und warfen sie geduckt im Graben nach links und rechts heraus, soweit wir konnten. Dabei erfreuten wir uns über das selbst veranstaltete Feuerwerk zwischen dem todbringenden Gemetzel um uns herum.
Ein anderes Mal fanden wir ein halbes Dutzend Karabiner mit der entsprechenden Munition. Die schleppten wir in eine nahe Schule, luden die Gewehre und feuerten sie dort voller Lust auf alles ab, was uns an böses aus der Schulzeit erinnerte. Dabei war uns gar nicht bewusst, was wir hier zwischen den Fronten veranstalteten. Es brauchten doch nur Uniformierte - egal welcher Couleur - auf uns zu stoßen. Die würden uns gnadenlos abschießen.
Rückblicken vermag ich daran zu erkennen, wie man sich als Mensch in der Pubertät schnell an alles das zu gewöhnen vermag, was das Schicksal bereitstellt. Und das waren für mich wie sicherlich auch für meine Freunde, ohne weiter darüber nachzudenken, oder gar zu bewerten, Tod, Verderben, Mord und Überleben.
Ich könnte noch viel mehr über jene schrecklichen Tage, Wochen oder waren es gar Monate berichten, derweil mir der Zeitablauf erst nach und nach aufgrund meiner Nachforschungen ins Gedächtnis zurückkehrt.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn mir der eine oder der andere bei meinen Recherchen und Nachforschungen behilflich sein könnte.