Ich möchte hier zur Klärung dieses äußerst umstrittenen historischen Themas kurz zwei Auszüge aus den privaten Tagebüchern von Reichsminister Joseph Goebbels zitieren, die eindeuntig belegen, dass man auf Seiten der deutschen Führung einen russischen Angriff befürchtete:
16. Juni 1941
Die Russen sind genau an der Grenze massiert. Sie haben etwa 180-200 Divisionen zur Verfügung, vielleicht auch etwas mehr.[...]
Wir müssen handeln. Moskau will sich aus dem Kriege heraushalten, bis Europa müde und ausgeblutet ist. Dann möchte Stalin handeln, Europa bolschewisieren und sein Regiment antreten. Durch diese Rechnung wird ihm ein Strich gemacht.[...]
Unsere Aktion ist so vorbereitet, wie das überhaupt menschenmöglich ist. Es wird solange gekämpft, bis keine russische Heeresmacht mehr existiert.
[...]England möchte gerne Russland als Zukunftshoffnung in Europa halten. Das war auch Cripps Mission in Moskau. Sie ist noch nicht gelungen. Der Mann trägt seinen Namen zu Unrecht. Aber Russland würde uns angreifen, wenn wir schwach werden, und dann hätten wir den Zweifrontenkrieg, den wir durch diese Präventivaktion verhindern. Dann erst haben wir den Rücken frei.
9. Juli 1941
[...]Der Hauptstoß also, den die Bolschewiken in das Reich vorhatten, kann als gänzlich abgeschlagen angesehen werden. Unsere Verluste halten sich im mäßigen Rahmen.[...]
Es besteht heute kein Zweifel mehr, dass die Russen ihre ganze Stoßkraft an ihrer Westgrenze versammelt hatten und diese Gefahr im Augenblick einer Krise, die eventuell im Verlaufe des Krieges über uns hätte hereinbrechen können, für uns tödlich geworden wäre. Wir haben demgegenüber etwa 220 Divisionen aufmarschieren lassen.[...]
Der Führer hat einen heiligen Zorn auf die bolschewikische Führungsclique, die sich mit der Absicht trug, Deutschland und damit Europa zu überfallen und doch noch im letzten Augenblick bei einer Schwächung des Reiches den seit 1917 schon geplanten Versuch der Bolschewisierung des Kontinents praktisch durchzuführen.[...]
Heute sieht das Volk in seinen breiten Schichten ein, dass die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus notwendig war, dass der Führer wieder einmal die richtige Entscheidung getroffen hat, dass der Krieg im Osten siegreich durchgeführt werden kann und dass dann erst die Möglichkeit gegeben ist, sich mit der gesamten Wucht der deutschen Stoßkraft auf den Westen bzw. England zu werfen. Der Führer betont mir gegenüber noch einmal, dass auch die bisher gemachten militärischen Erfahrungen eindringlich darlegen, dass es höchste Zeit war, dass er im Osten zum Angriff vorging. Darin unterscheidet sich die deutsche Kriegsführung von der Kriegsführung des Reiches im Weltkriege. Bis zum 1. August 1914 hat man bieder und brav gewartet, bis die feindliche Koalition sich zusammengefunden hatte und erst dann losgeschlagen. Unsere Kriegsführung setzt sich zum Ziel, jeden Gegner einzeln vor die Klinge zu bekommen und das gegnerische Lager Stück um Stück niederzuwerfen. Der Präventivkrieg ist immer noch der sicherste und der mildeste, wenn man sich darüber im klaren ist, dass der Gegner sowieso bei der ersten besten Gelegenheit angreifen wird; und das ist beim Bolschewismus der Fall gewesen![...]
Der Krieg im Osten war notwendig und es ist für seinen Beginn der richtige Zeitpunkt gewählt worden. Das sehen nun auch die Militärs, die zuerst dieser Aktion etwas skeptisch gegenüberstanden, vollkommen ein. Es gibt heute in der deutschen Wehrmacht keinen führenden Mann mehr, der dem Führer nicht dankbar dafür ist, dass er die Verantwortung für den Krieg im Osten auf sich genommen hat, zur rechten Zeit zuschlug, und nicht wartete bis der Gegner über das Reich herfiel.[...]
Fazit: Die Dinge stehen militärisch und wirtschaftlich gut. Es kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass der Kreml über kurz oder lang fallen wird. Er hatte die Absicht, durch seine Truppenmassierungen an unserer Ostgrenze, uns in die Unmöglichkeit zu versetzen, England mit ganzer Kraft anzugreifen. Es wäre vielleicht noch in diesem Herbst zum Angriff vorgegangen. Zweifellos aber wollte er in diesem Herbst, wenn wir keine Möglichkeit mehr zu agressiven Handlungen gegen Russland hatten, schon wegen der Wetterlage, Rumänien besetzen. Damit hätte der Kreml uns die Petroleumzufuhr abgeschnitten. Kam dann noch hinzu ein ewig sich wiederholender Angriff der englischen Luftwaffe auf unsere Hydrierwerke mit dem Erfolg, dass wir im kommenden Frühjahr, wenn es wirklich ums Letzte ging, ohne einen Tropfen Benzin dastanden, so wäre das ein tödlicher Schlag für uns gewesen, denn wir wahrscheinlich nicht mehr hätten überwinden können. Der Führer hat durch seinen kühnen, anfangs zwar unpopulären Entschluß das Schicksal des Reiches gerettet.[...]
Weiters intreressant in diesem Zusammenhang wäre auch noch ein Auszug aus dem Buch von Franz Halder »Hitler als Feldherr«, das 1949 in München erschien, und das später, 1950,d als »Hitler as War Lord« ins Englische übersetzt und in England veröffentlicht wurde. Hier widmet der damalige Chef des Generalstabes des Heeres Franz Halder dem »Unternehmen Barabarossa« beachtlichen Raum:
›... der Horizont im Osten wurde ständig dunkler. Rußland marschierte mit zunehmender Stärke in die baltischen Staaten ein, die als russisches Interessensgebiet zugestanden wurden. An der deutsch-russischen Demarkationslinie standen über eine Million russischer Soldaten in voller Kriegsordnung mit Panzern und Flugzeugen einigen wenigen deutschen Sicherheitskräften gegenüber, die zudem noch über weite Strecken hinweg verteilt waren. Im Südosten hatte Rußland rumänisches Gebiet besetzt: Bessarabien und das Buchenland (Bukowina). Zudem reagierte Rußland auf Hitlers politische Manöver nicht. Der letzte Versuch, Rußland als Partner für die Aufteilung der Welt gemäß Hitlers Vorstellungen zu gewinnen, war bei einem zweitägigen Treffen mit Molotow Mitte November 1940 gescheitert. Der Politiker Hitler war mit seinem Latein am Ende. Im Dezember 1940 erging sein Befehl an die drei Waffengattungen der »Barbarossa-Befehl«, Pläne für einen Angriff auf Rußland auszuarbeiten unter der Voraussetzung, daß sich die deutsch-russischen Beziehungen grundsätzlich ändern würden. Es war eine vorbereitende Maßnahme. Eine Entscheidung war nicht gefallen. Man muß es dem Politiker zugestehen, hinhaltend zu taktieren und die endgültige Entscheidung erst im letzten Augenblick zu treffen. Wann genau Hitler diese Entscheidung traf, kann wahrscheinlich nicht mehr festgestellt werden. Erklärungen, Reden und Befehle, um die Maschinerie, sollte es erforderlich sein, materiell wie psychologisch in Gang zu setzen, können bei diesem Meister der Doppeldeutigkeit nichts bedeuten. Indes kann angenommen werden, daß die Entscheidung erst nach den schnellen Erfolgen beim Balkanfeldzug fiel, im Verlauf dessen Rußlands Feindschaft Hitler gegenüber deutlich sichtbar geworden war. Die Entscheidung, Rußland anzugreifen, fiel Hitler nicht leicht. Sein Geist war voll der Warnungen seiner militärischen Berater. Der Schatten Napoleons, Vergleiche mit ihm hörte er gerne, lag über den geheimnisvollen Weiten dieses Landes. Andererseits hatte er die feste und begründete Überzeugung, daß sich Rußland auf einen Angriff auf Deutschland vorbereitete. Heute wissen wir aus guten Quellen, daß er recht hatte. Rußland würde natürlich dann angreifen, wenn Deutschland in einer wenig günstigen Ausgangslage war, anders ausgedrückt: Wenn der Westen wieder handlungsfähig war. Der Zweifrontenkrieg, den der Generalstab lange vor 1938 in einer Denkschrift vorausgesagt hatte, wäre dann eine Tatsache.«
Halder hatte sicher eine Stellung inne, die es ihm ermöglichte, die militärische Lage richtig einzuschätzen. Nach dem Einmarsch und den schnellen Niederlagen der sowjetischen Streitkräfte fand man dann wie gesagt genügend Material, das die ersten Einschätzungen bestätigte. Da Halder ein strenger Kritiker Hitlers war, sind seine Kommentare zu diesem Thema, welche die Notwendigkeit militärischen Handelns widerspiegeln, weitaus wertvoller als etwa die Einschätzung aus der Feder eines Hitleranhängers.